Von Joachim Uhrlass
Von Joachim Uhrlass
Eine gezielte Software-Modernisierung (Retrofit) kann eine schnelle und risikoarme Alternative zum Replatforming sein. In diesem Beispiel wird die Storefront eines Shops an den Bedarf des Marketings angepasst.
Unternehmen müssen ihre digitalen Plattformen und Systeme kontinuierlich modernisieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies ist besonders im E-Commerce wichtig, wo Kundenanforderungen und Technologien sich laufend weiterentwickeln. Eine effektive Methode, um dies zu erreichen, ist die risikoarme und mehrwertorientierte Nachrüstung bestehender Systeme. Hier setzt das Konzept des Retrofitting an.
Software-Modernisierung als Alternative zum Replatforming
Wenn Software-Systeme den Geschäftsanforderungen nicht mehr genügen, sind Veränderungen nötig. Oft lassen sich durch überschaubare, gezielte Maßnahmen deutliche Verbesserungen erreichen, ohne eine vorhandene Softwarelösung grundlegend infrage stellen zu müssen. Deshalb ist Software-Retrofitting in vielen Fällen eine schnelle und wirtschaftliche Alternative zu einem grundlegenden Replatforming.
Schneller zu messbarer Verbesserung
Anders als beim Replatforming werden Software-Systeme beim Retrofitting nicht komplett umgebaut oder ersetzt. Vielmehr wird beim Retrofitting versucht, mit möglichst geringem Aufwand und in kurzer Zeit eine gewünschte Verbesserung zu erzielen. Der Fokus auf die „Low hanging fruits“ im Transformationsprozess spart Zeit und Ressourcen. Das Ziel kann in der Regel mit kleineren Entwicklungsteams erreicht werden.
Risiko der Veränderung reduzieren
Eingriffe in bestehende Software-Systeme sind nie ohne Risiko. Das gilt besonders für komplexe Replatforming-Projekte, bei denen oft sehr große, organisch gewachsene Systeme im laufenden Betrieb transformiert werden müssen. Durch das Aufteilen solch großer Vorhaben in kleine gezielte Software-Modernisierung wird auch das Risiko der Veränderung in kleine, beherrschbare Portionen aufgeteilt.
Leseempfehlung: Retrofit im E-Commerce: Wie Unternehmen ihre Technologien mit geringem Risiko und Aufwand nachrüsten
Anatomie eines Retrofit-Projektes
Der wesentliche Vorteil einer Modernisierung besteht darin, dass Eingriffe in ein Software-System sehr gezielt erfolgen und deshalb Aufwand und Risiko sehr gut kalkulierbar sind. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Zielsetzung und das Vorgehen vorab klar definiert werden. Zudem müssen relevante Implikationen für die Entwicklung – querschnittliche Aspekte – identifiziert werden, um die Weichen richtigzustellen.
- Zielsetzung: Welche Verbesserung(en) soll durch den Software-Retrofit erreicht werden? Welche Prozesse sollen optimiert werden? Welche Fachabteilungen sollen wozu befähigt werden? Welche Produkte sollen neu entwickelt werden? Wie soll die Verbesserung gemessen werden (KPIs)?
- Vorgehen: Wie soll die Verbesserung erreicht werden? Werden einzelne Arbeitspakete und Teilprojekte seriell oder parallel umgesetzt? Wer ist am Projekt beteiligt? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Stakeholdern/Auftraggebern, Entwicklern und Projektleitung?
- Teilprojekte: Wie wird die Entwicklung sinnvollerweise aufgeteilt, um beispielsweise parallel entwickeln zu können? Welche Produkte und/oder Arbeitspakete enthalten die einzelnen Teilprojekte?
- Querschnittliche Aspekte: Welche Anforderungen sind für die Entwicklung der Produkte relevant? In welchem Kontext werden die Produkte eingesetzt? Welche internen und/oder externen Bedingungen sind bei der Planung und Umsetzung zu berücksichtigen?
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich beim Retrofit um einen sehr effizienten Ansatz für die Software-Ertüchtigung handelt. Er zielt darauf ab, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um schnell und mit geringem Aufwand eine größtmögliche Veränderung zu erreichen. Der Umfang eines Retrofit-Projekts kann dabei von einem einfachen Eingriff bis hin zu größeren Vorhaben mit mehreren Teilprojekten reichen.
Leseempfehlung: Systeme intelligent tunen, statt neu bauen: Beispiele für Software-Retrofitting im E‑Commerce
Beispiel: Frontend-Modernisierung bei einem B2B/B2C-Händler
Für einen international agierenden Versandhändler für Betriebs-, Lager- und Büroausstattungen hat eCube ein Software-Retrofit des Online-Shops umgesetzt. Dabei wurde die bisherige Storefront des Shops durch eine flexiblere Lösung ersetzt. Das neue Headless Frontend ermöglicht es dem Marketing des Unternehmens, einfacher als bisher neue Inhaltsseiten (Landingpages) für Kampagnen zu veröffentlichen.
Ausgangssituation: Monolithisches Shopsystem stößt an Grenzen
Das Unternehmen betreibt einen Online-Shop auf Basis eines monolithischen E-Commerce-Systems. Frontend und Backend sind nicht getrennt, sondern in einem Komplettsystem integriert. Das Frontend, die Präsentationsebene des Shops, bildet die Grundfunktionen des Online-Verkaufs gut ab. Für das flexible Erstellen von Inhaltsseiten für Marketingkampagnen ist das System jedoch nicht ausgelegt.
Die starre und eingeschränkte Funktionalität des Frontends hat zur Folge, dass selbst kleinste inhaltliche Erweiterungen wie z.B. Landingpages für Verkaufsaktionen nicht ohne Unterstützung der IT möglich sind. Die Umsetzung ist in jedem Einzelfall sehr aufwändig und dementsprechend zu langsam für den modernen Online-Verkauf. Die Folge: Das Marketing behilft sich mit eigenen Tools, eine Schatten-IT entsteht.
Herausforderung: Technische Basis erhalten, Frontend flexibilisieren
Als Antwort auf die sehr eingeschränkten Möglichkeiten des bestehenden E-Commerce-Systems, den Online-Shop schnell und flexibel um Marketinginhalte zu erweitern, soll das Frontend vom Backend nach dem Headless-Prinzip getrennt, neu entwickelt und mit Funktionen für ein nutzerfreundliches Content-Management ausgestattet werden. Das bestehende E-Commerce-System soll erhalten bleiben.
Bei der Umstellung des Frontends auf Headless in mehreren Teilprojekten müssen eine Reihe von querschnittlichen Aspekte berücksichtigt werden. Diese bezeichnen Randbedingungen, Voraussetzungen und die damit verknüpften Tätigkeiten, welche für die Planung und Umsetzung jedes Teilprojekts anteilig eine Rolle spielen. Hier eine Auswahl der wichtigsten querschnittlichen Aspekte in diesem Projekt:
- Internationalisierung für den Verkauf in verschiedenen europäischen Ländern
- Externe Skripte und Funktionen wie z. B. Tracking- und Marketing-Scripte, Cookie-Consent, Chat etc.
- Responsive Design für mobile Endgeräte mit kleinen Bildschirmen
- Privat- und Geschäftskunden erhalten unterschiedliche Benutzeroberflächen und Inhalte
- Preise und Preisgruppen in Abhängigkeit vom angemeldeten Nutzenden
- SEO umfasst den Erhalt indizierter URLs und Metatags sowie definierte Core Web Vitals
- Routing und Networking für den hybriden Betrieb von bestehender und neuer Storefront
- Web-Security auf Basis des Mozilla Observatory Scores
- Barrierefreiheit entsprechend Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)
Lösung: Schrittweise Umstellung auf Headless Storefront
Die Entwicklung der neuen Storefront und die Ablösung der alten sollte iterativ erfolgen. Im ersten Schritt wurde die Umsetzbarkeit eines Headless Frontends mithilfe eines Proove of Concept (POC) überprüft. Diese Vorgehensweise empfiehlt sich besonders bei Software-Modernisierungen mit einer Vielzahl von querschnittlichen Aspekten – komplexen Rahmenbedingungen und Anforderungen – wie in diesem Fall.
In Teilprojekten wurden die bestehende Entwicklungsinfrastruktur in neue Systeme bzw. Services umgezogen und alle (limitierenden) Abhängigkeiten zur bestehenden Infrastruktur beseitigt. Zudem wurde ein neues Shop-Frontend (Storefront) entsprechend der Anforderungen des Unternehmens, insbesondere der Fachabteilung Marketing, entwickelt und im Hybridbetrieb getestet.
Ergebnis: Schnell und flexibel auf neue Anforderungen reagieren
Das Unternehmen verfügt heute über ein E-Commerce-System mit einer flexiblen Headless Storefront. Das Veröffentlichen neuer Inhalte im Shop ist durch die Integration einer modernen Content-Management-Funktionalität (CMS) durch das Marketing ohne Unterstützung der Unternehmens-IT jederzeit sehr einfach und schnell möglich. Auf diese Weise konnte die Time to Market von Kampagnen deutlich reduziert werden.
Die technische Trennung von Frontend und Backend ermöglicht es dem Unternehmen, die Präsentationsebene des Shops zu erweitern, ohne dass komplexe Wechselbeziehungen zum Backend den Aufwand und das Risiko der Entwicklung erhöhen. Die modulare Struktur des Frontends stellt sicher, dass Funktionen und Inhalte nach dem Prinzip des Composable Commerce flexibel orchestriert werden können.
Fazit: Groß denken, schlank starten
Wenn es darum geht, schnell und effizient Schmerzen (Pains) zu beseitigen oder Gewinne (Gains) zu realisieren, dann kann eine gezielte Software-Modernisierung eine Alternative (oder Vorstufe) zum Replatformung sein. Statt ein E-Commerce-System von Grund auf umzubauen, genügt im obigen Beispiel die Ablösung und Neuentwicklung des Frontends, um die Vermarktung gezielt zu verbessern.
Entscheidend für den langfristigen Erfolg von Retrofit-Projekten ist, gezielte Anpassungen stets im Kontext einer Vision für die zukünftige Weiterentwicklung des Online-Geschäfts zu denken. In unserem Beispiel wurde mit dem ersten Schritt zum Headless Frontend die Basis gelegt für eine weitergehende Modularisierung des gesamten Systems, einschließlich Backend, in Richtung Composable Commerce.